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Interview mit Professor Ernst Tremp, ehemaliger Stiftsbibliothekar St.Gallen, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats.

CG: Sehr geehrter Herr Professor Tremp, Sie waren lange Jahre „Hüter“ des St. Galler Klosterplans und kennen ihn wie kaum ein anderer. Wir freuen uns, Sie im Beirat zu haben! Worin besteht Ihre persönliche Faszination für dieses Dokument?

Tremp: Wie kaum ein anderes Zeugnis aus dem Frühmittelalter vermittelt der Klosterplan dem Betrachter Einblicke in das damalige Leben. Wenn ich mit der Lupe Einzelheiten des Plans betrachte, kommt es mir vor, als blicke ich in die Räume hinein und schaue den Mönchen bei ihren täglichen Verrichtungen zu. Da ist nicht nur der Mönchschor in der Kirche, wo sie während vieler Stunden des Tages und in der Nacht die Psalmen sangen und die Messe feierten. Da sind auch das Skriptorium und die Bibliothek, wo die kostbaren Handschriften angefertigt und aufbewahrt wurden. Unweit davon die Schule, wo die Knaben geschult und als künftige Mönche in die Wissenschaften eingeführt wurden. Da ist nahe vom Mönchschor der Schlafsaal mit den einzeln eingezeichneten Betten, da sind auch die Latrinen, die Badehäuser für die Körperpflege, das Refektorium mit den langen Tischreihen, dem Vorleserpult und den Gästetischen, daneben die große Mönchsküche, die Vorratsräume, die Werkstätten der Handwerker, die landwirtschaftlichen Bauten usw. Und das Krankenhaus mit seinen verschiedenen Räumen und Einrichtungen, dem Ärztehaus und dem Heilkräutergarten, und schließlich der Friedhof, wo die verstorbenen Mönche mitten im Obstgarten, der das Paradies versinnbildlicht, ruhen und auf die Auferstehung warten. Ein ganzes Universum tritt uns da entgegen.

Bei jeder Beschäftigung mit dem Klosterplan eröffnen sich neue Einsichten. Die Räume füllen sich mit den Geschichten von berühmten und weniger berühmten St. Galler Mönchen, über die die Klostergeschichtsschreibung berichtet und von denen in den Handschriften der Stiftsbibliothek Zeugnisse überliefert sind.

CG: Welchen Stellenwert hat der Klosterplan unter all den wertvollen Dokumenten der Stiftsbibliothek?

Tremp: Unter den etwa 2‘100 Handschriften der Stiftsbibliothek, davon 400 aus der Zeit vor 1200, nimmt der Klosterplan eine Sonderstellung ein. Er ist kein „Codex“, d.h. ein gebundenes Buch, sondern ein auf mehreren zusammengenähten Pergamentstücken großflächig gezeichneter und beschrifteter Architekturplan. Er ist die einzige solche Planzeichnung, die aus dem Frühmittelalter überliefert ist. Seit seiner Entstehung im Kloster Reichenau um 820/30 wurde er ununterbrochen in der Bibliothek des Klosters St. Gallen aufbewahrt. Seine singuläre Bedeutung wurde aber erst seit der Frühen Neuzeit nach und nach erkannt. Heute ist er die am meisten abgebildete und am besten erforschte Handschrift der Stiftsbibliothek. Er hat aber noch längst nicht alle seine Geheimnisse enthüllt. Bei der Aufnahme des Stiftsbezirks St. Gallen in die Weltkulturerbe-Liste der Unesco im Jahr 1983 spielte der Klosterplan eine wichtige Rolle.

CG: Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von der Absicht erfuhren, in heutiger Zeit ein Kloster nach Vorlage des Klosterplans zu bauen?

Tremp: Als ich im Winter 2011 mit meiner Frau in den Hochschwarzwald in die Ferien fuhr, las ich zufällig in einer im Zug liegengebliebenen Lokalzeitung vom geplanten Vorhaben. Das war noch einige Zeit bevor man in Meßkirch beschloss, den Campus Galli zu bauen. Die Idee fand ich von Anfang an originell und bestechend, und ich erkannte das Potential, das dahinter steckt. Es war mir aber ein wichtiges Anliegen, dass die Klosterstadt auf wissenschaftlich seriösen Grundlagen errichtet werde und nicht zu einem „Disneyland“ verkommen würde. Daher nahm ich nach meiner Rückkehr aus den Winterferien sogleich mit dem Initianten Bert Geurten Verbindung auf und bot ihm die wissenschaftliche Unterstützung der Stiftsbibliothek St. Gallen an. Daraus ist eine gute Zusammenarbeit erwachsen, und folglich wirke ich auch im wissenschaftlichen Beirat des „Campus Galli“ seit dessen Konstituierung mit.

CG: Wer half im 9. Jahrhundert beim Bau eines Klosters mit? Waren das die Mönche selbst, oder doch eher die Bewohner des jeweiligen Lehens?

Tremp: Aus der Lebensbeschreibung des heiligen Gallus erfahren wir, dass schon im frühen 7. Jahrhundert beim Bau seiner Zelle an der Steinach mit den verschiedenen Gebäuden Bauleute aus der Umgebung auf Anweisung ihrer Grundherren zur Verfügung standen. Umso mehr wird man im frühen 9. Jahrhundert, als St. Gallen bereits über eine ausgedehnte Grundherrschaft mit zahlreichen Bauernhöfen verfügte, beim Bau der neuen Klosterkirche und der Konvents- und Wirtschaftsgebäude auf die Unterstützung von Dienstleuten und abhängigen Bauern gezählt haben: für das Heranschaffen und Bereitstellen der Baumaterialien Stein und Holz, für die schweren Maurer- und Zimmerarbeiten usw. Die Mönche selber haben bestimmt auch Hand angelegt. Je nach Begabung und Fähigkeiten dürften sie besonders bei der Planung und Bauleitung oder bei der künstlerischen Ausstattung etwa der Kirche oder des Kreuzgangs tätig gewesen sein. Wir wissen von verschiedenen Spezialisten unter den St. Galler Mönchen, z.B. von Tanco, der die Kunst des Glockengießens beherrschte und sogar für Karl den Großen eine Glocke schuf.

CG: Beim Klosterplan von St. Gallen heißt es auch, er sei die „architektonische Umsetzung der Benediktsregel“. Worin äußert sich das?

Tremp: Damit ist nicht nur die Umsetzung der Benediktsregel gemeint, so wie sie Benedikt von Nursia (um 480–547) für sein Kloster Montecassino geschaffen hatte. Seine Regel war auf kleine Mönchsgemeinschaften an abgelegenen Orten Mittelitaliens im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter ausgerichtet. Das Kloster St. Gallen und die anderen großen Benediktinerklöster im Karolingerreich hingegen waren komplexe Organismen. Sie erfüllten über ihre eigentliche religiöse Zweckbestimmung hinaus vielfältige Aufgaben in Gesellschaft, Bildung und Kultur, waren wirtschaftliche Zentren, militärische Stützen des Königtums und der lokalen Herrschaftsträger in ihrem Raum. Ein solches Großkloster beherbergte neben zahlreichen Mönchen, Novizen und Schülern auch Dienstleute, Knechte und Mägde verschiedenster Art. Wenn unter Karl dem Großen (768–814) und seinem Sohn Ludwig dem Frommen (814–840) die Benediktsregel als einzige Mönchsregel im Reich eingeführt wurde, wurde sie durch „Ausführungsbestimmungen“ (Consuetudines) erweitert und ergänzt. In diesem umfassenderen Sinn hatte der Plan den Anforderungen eines solchen benediktinischen Großklosters zu entsprechen. Daher umfasst er neben den Kernbereichen des Mönchslebens, die durch die Klausur nach außen abgeschlossen sind,  auch „weltliche“ Bereiche wie die den Laien ebenfalls zugängliche Klosterkirche mit der Krypta des Gründerheiligen Gallus, das Gästehaus für die vornehmen Gäste, das Pilgerhospiz, Handwerksbetriebe usw.

CG: Worin sehen Sie die größte Herausforderung für das Projekt Campus Galli, und was wünschen Sie dem Projekt für die Zukunft?

Tremp: Der Klosterplan ist ein zweidimensionales Dokument mit nur spärlichen Angaben zur Beschaffenheit der verschiedenen Gebäude und namentlich zur dritten Dimension, nämlich der Höhe. Daraus richtige Gebäude aus Stein und Holz zu errichten, wird stets eine Herausforderung an die Bauleute sein. Dabei steckt Campus Galli im Zwiespalt zwischen den Erkenntnissen einer strengen wissenschaftlich-experimentellen Archäologie und den Anforderungen an das moderne Bauen, denken wir nur an die heutigen rechtlichen und Sicherheitsaspekte. Aber die ersten drei Jahre seit der Eröffnung der Baustelle haben gezeigt, dass diese Schwierigkeiten überwunden werden können. Mit jedem Jahr wachsen Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit den alten Baumaterialien und Bautechniken. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Bauwerk gelingen wird und zu einem herausragenden Zeugnis wird für die Beschäftigung unserer Zeit mit dem Frühmittelalter.

Es stellt sich freilich die Frage, was mit der dereinst vollendeten Klosterstadt geschehen soll. Wird sie einfach ein vielbesuchtes Museum sein, oder wird darin auch das Mönchsleben von einst in irgendeiner Form wiederbelebt werden? Die Vollendung des Campus Galli – sei es in vierzig oder in fünfzig Jahren – werde ich allerdings bestimmt nicht mehr miterleben. Daher kümmert mich diese Frage nicht sosehr…

CG: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.

Das Interview fand statt im Januar 2016, die Fragen stellte Dr. Hannes Napierala.

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5 Kommentare

  • christian m. woydak

    ein sehr aufschlussreiches interview, vielen dank dafür. da herr prof. dr. tremp ein profunder kenner karolingischer klosterkultur zu sein scheint, interessiert es mich, wie er als verantwortlicher beirat z.B. den kräuter- und arzneigarten von campus galli aus wissenschaftlicher sicht einordnet. entspricht die bauweise der quellenlage des 9. Jahrhunderts? oder haben die recht, die meinen, hier wurde unsachgemäß recherchiert und gearbeitet?

    • Prof. E.Tremp

      Sehr geehrter Herr Woydak,
      die Verantwortlichen des Campus Galli und des Wissenschaftlichen Beirats kennen natürlich auch die Stelle in Walahfrids Hortulus, wo er von den Brettern spricht, die die Pflanzenbeete einfassen. Solche Bretter mit den Werkzeugen des 9. Jahrhunderts herzustellen, ist allerdings ein sehr aufwendiges Verfahren. Man kann die Bretter ja nicht einfach im Baumarkt kaufen! Nach langen Diskussionen haben wir uns entschlossen, aus arbeitsökonomischen, pragmatischen Gründen für den jetzigen Kräutergarten eine Einfassung aus Steinen vorzuziehen. Dies halten wir im Rahmen der Möglichkeiten des 9. Jahrhunderts für vertretbar und der aktuellen Situation angemessen. Es handelt sich hier nämlich – was Ihnen vielleicht nicht bewusst ist – um ein Provisorium! Dieses ist gegenüber dem endgültigen Kräutergarten stark verkleinert und liegt erst noch an der „falschen“ Stelle in der Anlage, d.h. der endgültige Garten wird später an anderer Stelle angelegt und selbstverständlich mit Brettern eingefasst werden.

      15.1.2016, Prof. Ernst Tremp

      • christian m. woydak

        danke für ihre schnelle antwort. im zusammenhang mit dem arzneigarten möchte ich den vorschlag machen, dass zukünftig allen besuchern, evtl. mittels hinweistafel, klar gemacht wird, dass es sich um ein quellenmäßig nicht belegtes provisorium handelt. mir wurde bei einer führung 2014 nämlich ein gegenteiliger eindruck vermittelt. wann darf mit dem korrekt angelegten garten ca. gerechnet werden? drei Jahre sind bereits ein langer zeitraum für ein „provisorium“. immerhin haben dadurch schon viele tausend besucher einen falschen eindruck mitgenommen.

        • Hallo Herr Woydak,

          man kann es meiner Ansicht nach mit dem großen „A“ auch übertreiben. Ebenso finde ich „lang“ relativ; angesichts einer geplanten Bauzeit von 40 Jahren erscheint mir für ein Provisorium eine Zeitspanne von drei Jahren (oder auch 10) nicht übertrieben. Ich kenne den Grund dafür, dass der Heilkräutgarten nicht direkt am endgültigen Platz angelegt wurde, nicht. Unter Umständen wird der Kräutergarten erst bei Fertigstellung verlegt? Das hätte m.E. durchaus Sinn.

          Bei meinen Recherchen zum Campus Galli bin ich auf – sehr wenig – Kritik gestoßen. Diese Kritik scheint meinem bescheidenen Bauchgefühlt nach aus einem sehr kleinen Personenkreis zu kommen und scheint, leider, eher destruktiv und nicht daran interessiert sein, das Projekt weiterzubringen. Ich finde das schade, denn hier besteht eine einzigartige Chance, BesucherInnen die in diesem Fall karolingische Zeit hands-on nahezubringen. Wer sich für das große „A“ interessiert, wird weiterforschen.

          Ich habe für mich entsprechende Artikel unter „zwischenmenschlichen Problemen“ verbucht und fest vor, in meinem Ruhestand meinen Beitrag zu Campus Galli durch Mithilfe zu leisten – eine interessante Erfahrung wird es allemal werden.

          MfG
          Monika M. C.

  • Eckhard Bielefeld

    Den vielen tausend Besuchern, kommt es mit Sicherheit darauf nicht an. Das „Provisorium“ ist eindrucksvoll und erfüllt den Zweck. Lebenspraktisch eben.

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